Die vier Wissensarten

Es geht um die vier Wissensarten aus dem Integrierenden Lernmodell von Kaiser (in der aktuellen Version des Lernmodells heissen die Wissensarten "Wissenssysteme").

Lernen kann in allen seinen Ausprägungen als Wissenserwerb bzw. als Wissens­erweiterung aufgefasst werden, wenn der Begriff Wissen nicht auf eine bestimmte Art von Wissen eingegrenzt wird.

1 Wissensarten

Die Alltagssprache macht leider eine solche Eingrenzung und spricht nur von Wissen, wenn es um sogenanntes deklaratives Wissen geht: Sprachlich gefasste Theorien, Konzepte und Fakten oder Weltbeschreibungen (Beschreibungen von etwas).

Daneben gibt es aber weitere Wissensarten, die sich in wichtigen Punkten von deklarativem Wissen unterscheiden, nicht zuletzt auch darin, wie sie erworben werden.

Zwei Wissensarten werden alltagssprachlich beide als Können bezeichnet: Prozedurales und sensomotorisches Wissen. Prozedurales Wissen enthält alle kognitiven Handlungsroutinen, die uns ermöglichen, viele unserer Alltagshandlungen routiniert, d.h. ohne Aufmerksamkeits­belastung durchzuführen. Sensomotorisches Wissen steuert die automatisierten und über sensorisches Feedback an die Umwelt angepassten motorischen Aktivitäten. Da unsere Alltagsroutinen immer prozedurale und sensomotorische Komponenten enthalten, ist verständlich, dass die Alltagssprache die beiden Wissensarten nicht unterscheidet. Dort, wo Erwerb und Einsatz dieser Wissensarten wesentliche Unterschiede aufweisen, ist es jedoch wichtig, diese Differenzierung zu berücksichtigen.

Eine vierte Wissensart ist unser individuelles situatives Wissen, unsere unzähligen Erinnerungen an unsere Erlebnisse, unsere gesammelten Erfahrungen. Die Alltags­sprache räumt diesen Erfahrungen nicht den Status einer Wissensart ein, wohl vor allem deshalb, weil jeder Erfahrungsschatz individuell bleibt und anderen Menschen nicht direkt zugänglich ist. Spätestens seit den Erkenntnissen aus der Expertenforschung ist es aber angezeigt, das situative Wissen als eigenständige Wissensart zu berücksichtigen.

Die Expertenforschung der letzten 20 Jahre hat gezeigt, dass Experten nicht aufgrund ihres deklarativen Wissens und daraus abgeleiteten Handlungsplänen so erfolgreich handeln, dass sie als Experten gelten. Sie handeln aufgrund ihres riesigen Erfahrungsschatzes: Für jedes erdenkliche Problem, jede potentielle Aufgabe, jede Situation aus ihrem Experten­bereich enthält ihr situatives Wissen bereits eine gute Vorlage für die erfolgreiche Bewältigung. Das Geheimnis ihres Erfolgs liegt in ihrem reich verknüpften Netz von Erinnerungen an Situationen und deren erfolgreiche Bewältigung.

Von diesem situativen Wissen ist auch in Situationsbeschreibungen die Rede: “Wie auch immer die Bildungsziele einer Berufsausbildung formuliert sind, das eigentliche Hauptziel ist immer die Befähigung der Lernenden, die im Beruf anstehenden Aufgaben und Situationen erfolgreich zu bewältigen.” Anders ausgedrückt: Das Ziel der Ausbildung ist situatives Wissen. Die andern Wissensarten und insbesondere das deklarative Wissen sind Mittel auf dem Weg zum Ziel. Das mindert den Wert dieser Wissensarten nicht, wie sich an der folgenden Beschreibungen von fundamentalen Funktionen des deklarativen Wissens leicht feststellen lässt.

2 Deklaratives Wissen und Kommunikation

Ein wesentlicher Grund dafür, dass die Alltagssprache den Wissensbegriff auf das deklara­tive Wissen eingrenzt, mag darin liegen, dass Wissen als sprachlich formulierbar und damit als kommunizierbar aufgefasst wird.

Und das gilt nun weder für das situative, noch für das prozedurale und sensomotorische Wissen. Wissen dieser drei Arten existiert nur individuell und ist nicht direkt kommunizierbar. Situatives Wissen kann anderen Menschen nur über eine explizite Beschreibung (Situations­beschreibung!) zugänglich gemacht werden, prozedurales und sensomotorisches Wissen ist nicht einmal seinem Besitzer direkt zugänglich. Er muss zuerst durch das Ausführen einer entsprechenden Handlung situatives Wissen herstellen, das er dann explizit beschreiben kann. Und erst diese (Situations!)-Beschreibung ist dann anderen Menschen zugänglich.

Hier liegt eine erste fundamentale Funktionen des deklarativen Wissens: Wann immer Lehr/Lernprozesse auf Kommunikation angewiesen sind - und das sind sie fast immer -, muss Information in die Form von deklarativem Wissen gebracht werden. Oder konkret: Wenn die erfolgreiche Bewältigung von beruflichen Situationen Gegenstand der Ausbildung ist, dann muss die Bewältigung von beruflichen Situationen beschrieben werden, und zwar immer wieder und besser schriftlich als nur mündlich. Siehe dazu Situationsbeschreibungen.

3 "Wissen, dass" und "wissen, wie"

In einer anderen Unterscheidung von Wissensarten wird "Wissen, dass" (knowledge) von "Wissen, wie" (knowhow) abgegrenzt. "Wissen, wie" wird dann oft gleichgesetzt mit prozeduralem und/oder sensomotorischem Wissen (Können). Das ist ok, solange man das prozedurale und sensomotorische Wissen nicht mit seiner Beschreibung verwechselt. Beschreibungen von prozeduralem und sensomotorischem (und auch von situativem) Wissen sind nicht mehr prozedurales, sensomotorisches (oder situatives) Wissen, sondern deklaratives Wissen (sprachliche Beschreibungen von etwas, in diesem Falle eben von prozeduralem, sensomotorischem oder situativem Wissen).

4 Lernen

Lernen als Wissenserwerb bzw. Wissenserweiterung muss nun danach differenziert werden, welche Art des Wissens erworben bzw. erweitert werden soll.

Deklaratives Wissen erwerben wir durch das Verstehen von gehörten, gelesenen und betrachteten Beschreibungen (= kommunikativ verfügbaren Informationen). Verstehen heisst "neue Information in bestehendes Wissen integrieren", setzt also immer schon deklaratives Wissen voraus (deswegen sprechen wir nicht bloss von “Wissenserwerb”, sondern immer von "Wissenserwerb bzw. Wissenserweiterung").

Situatives Wissen erwerben wir primär durch das direkte Sammeln von Erfahrungen. Bis zu einem gewissen Grad ist es uns auch möglich, miterlebte Erfahrungen von anderen Men­schen zu eigenen Erfahrungen zu machen, indem wir uns beim Miterleben sehr intensiv in die Rolle des Erfahrenden einfühlen, oder indem wir sehr rasch über eine Vormachen-Nachmachen-Sequenz das Erlebte wörtlich zur eigenen Erfahrung machen.

Prozedurales und sensomotorisches Wissen erwerben wir durch Üben, Üben und Üben, bis die Abläufe soweit automatisiert sind, dass sie routiniert und ohne weitere Aufmerksamkeits­belastung ablaufen. Typischerweise können wir dann unsere Aufmerksamkeit während des Ablaufes der Routine andern Dingen zuwenden (z.B. während des Autofahrens ein Gespräch führen). Im Lernmodell werden verschiedene Arten des Übens unterschieden: Prozeduralisieren, optimieren und einüben.

5 Lernhilfen und deklaratives Wissen

Erfahrungen sammeln und Üben, Üben, Üben sind Lernschritte, die primär die Aktivität der Lernenden erfordern. Es macht aber wenig Sinn, die Lernenden in einem blinden Versuch-Irrtum-Verhalten die "richtigen" Erfahrungen und den "korrekten" Ablauf von Routinen selber finden zu lassen. Lehrende sind dazu da, die Bedingungen für optimale Lernschritte der Lernenden sicherzustellen. Dabei ist die oben schon erwähnte Vormachen-Nachmachen-Sequenz eine uralte und immer noch eine der wichtigsten Lernhilfen. Daneben haben sich aber auch sprachlich basierte Lernhilfen nach dem Muster Vorsagen-(Verstehen)-Nachmachen seit langem etabliert. Diese setzen handlungsanweisende Beschreibungen voraus und verweisen damit auf eine zweite fundamentale Funktion des deklarativen Wissens: Handlungsleitendes Wissen im Sinne von Handlungsanweisungen (man könnte auch sagen: Rezepten) ermöglichen eine gewaltige Effizienzsteigerung der Lernschritte "Erfahrungen sammeln" und "Üben, Üben, Üben".

6 Beschreiben vs Erzählen

Die Differenz zwischen Vormachen und Vorsagen hat bei genauerer Betrachtung einige Zwischentöne: In vielen Fällen muss das Vormachen nicht “live” geschehen. Es kann auch über Video oder Film vermittelt werden. Oder durch ein so lebendiges Erzählen der Ge­scheh­nisse, dass der Zuhörer sie miterlebt, als wäre er dabei. Was ist denn der Unterschied zwischen diesem Erzählen und dem obigen Beschreiben. Warum zählen wir das Erzählen zum Vormachen und das Beschreiben zum Vorsagen?

Die Unterscheidung ist unter Drehbuchautoren geläufig: Die "Erzählung" einer Szene zieht den Leser in die Szene hinein, macht ihn zum Miterlebenden, zum Beteiligten. Die "Beschrei­bung" distanziert den Leser von der Szene, macht die Szene und einzelne Teile und Charak­teristika zum Objekt der Betrachtung. Erzählungen sind viel näher am situativen Wissen, sind sozusagen eine direkte sprachliche Repräsentation des situativen Wissens, geeignet als Vor­lagen zum Nacherleben. Als sprachliche Repräsentationen sind sie aber natürlich - wie alle Beschreibungen von etwas - deklaratives Wissen. Zum Nacherleben noch geeigneter als Erzählungen sind dann die Drehbücher selber (auch die Theaterstücke), die die Situationen so darstellen, dass sie direkt gespielt werden können (Rollenspiele, eine weitverbereitete Form des Lernens über die Simulation von realen Ereignissen/Erlebnissen).

Diese Zwischentöne zwischen Vorsagen und Vormachen, Beschreiben und Erzählen weisen auf eine komplexe Bezie­hung zwischen deklarativem und situativem Wissen hin. Diese Beziehung erweist sich als noch komplexer, wenn wir die Rolle des deklarativen Wissens bei der Wahrnehmung von Situationen mitbedenken.

7 Deklaratives Wissen und Wahrnehmen

Wir nehmen die Welt nicht wahr, wie sie ist. Wir nehmen wörtlich für wahr, was wir wahr­nehmen. Und bereits dieses Wahrnehmen ist geleitet, gesteuert durch unsere Konzepte, durch unsere Begriffe, die wir zur Verfügung haben, um die Welt zu beschreiben, um uns ein Bild von der Welt (ein Weltbild) zu machen. Das heisst aber, dass unser situatives Wissen, unsere Erfahrung immer schon gefärbt ist durch unser deklaratives Wissen, das wie eine Brille unsere Wahrnehmung der erlebten Situationen beeinflusst. Und das ist eine dritte, wohl die fundamentalste Funktion des deklarativen Wissens: Es prägt unsere Wahr­nehmung der Situation. Das deklarative Wissen bestimmt mit, was wir überhaupt sehen.

8 Deklaratives Wissen und Planen

Das deklarative Wissen hat weitere fundamentale Funktionen: Wir haben oben erwähnt, dass Experten Situationen nicht aufgrund ihres deklarativen Wissens und daraus abgeleite­ten Handlungsplänen bewältigen, sondern aufgrund ihrer Erinnerung an erfolgreich bewäl­tigte ähnliche Situationen. Was machen aber Anfänger, welche nicht über die entsprechende Erfahrung (= das entsprechende situative Wissen) verfügen? Ihnen bleibt nichts anderes übrig als aufgrund ihres deklarativen Wissens und allgemeiner Planungsgrundsätze eine Handlungsplan zu entwerfen, den sie dann in die Tat umsetzen können. Noch einmal: Experten gehen nicht mehr so vor, weil das viel aufwändiger ist. Da wir aber in vielen Bereichen ein Leben lang Anfänger bleiben (deshalb braucht es ja lebenslanges Lernen), wird das Planen zurecht als vierte fundamentale Funktion des deklarativen Wissens betrachtet. Planen kann auch als das selber Herstellen von Rezepten betrachtet werden (siehe zweite fundamentale Funktion des deklarativen Wissens). In der Tat werden Anfän­ger, denen das situative Wissen zur direkten Bewältigung einer Situation fehlt, vor dem Planen versuchen, zu einem Rezept (= zu einem vorgefertigten Plan) zu kommen. Erst wenn kein Rezept zur Hand ist, werden sie den grossen Aufwand auf sich nehmen, den das Planen mit sich bringt.

9 Deklaratives Wissen und Reflektieren

Experten entscheiden sich aufgrund ihres situativen Wissens für einen Handlungs­entwurf. Das deklarative Wissen spielt nur noch als Kontrollinstanz eine Rolle: Experten nutzen es um zu überprüfen, ob der intuitiv gewählte Handlungsentwurf irgendwelche allgemeinen Grund­sätze oder irgendwelche Besonderheiten der Situation missachtet. Dieses Unterstützen des Reflektierens ist die fünfte fundamentale Funktion des deklarativen Wissens. Ein solches Reflektieren kann vor der Handlung (wenn genügend Zeit vorhanden ist), während der Handlung (wenn genügend Aufmerksamkeit frei ist) oder dann nach der Handlung erfol­gen. Letzteres wird vor allem dann geschehen, wenn der Handlungsentwurf nicht erwar­tungs­gemäss realisiert werden konnte.

Von dieser fünften Funktion des deklarativen Wissens können natürlich auch Anfänger profitieren. Bei ihnen werden sich genügend Pläne nicht erwartungsgemäss realisieren und damit Anlass für das Reflektieren bieten.

10 Fazit

Was heisst das nun für eine Berufsausbildung?

  • Das Ziel der Ausbildung ist situatives Wissen, d.h. ein reich verknüpftes Netz von Erinnerungen an Situationen und ihre erfolgreiche Bewältigung.
  • Die andern Wissensarten (deklaratives, prozedurales, sensomotorisches Wissen) sind zweifach Ressourcen: Einerseits Mittel auf dem Weg zum Ziel, zum Aufbau situativen Wissens, andererseits Mittel, die bei geeignetem Einsatz das reale Handeln, das Bewältigen von Situationen verbessern.
  • Deklaratives Wissen spielt in seinen verschiedenen Funktionen eine wichtige Rolle.
    • Von allem, worüber in Ausbildung und Beruf kommuniziert wird, muss eine sprachliche Beschreibung (= deklaratives Wissen) vorliegen.
    • Rezepte (“Vorsagen statt Vormachen”) sind solche deklarativen Beschreibungen von situativem, prozeduralem und sensomotorischem Wissen und ermöglichen
      • Ein fehlerfreieres Bewältigen von Situationen schon beim ersten Versuch und dadurch
      • ein effizienteres Sammeln von Erfahrungen (Aufbau von situativem Wissen) und Üben, Üben, Üben (Aufbau von prozeduralem und sensomotorischem Wissen).
    • Wo noch kein situatives Wissen und auch noch kein Rezept zur “richtigen” Bewältigung der Situation anleitet, wird deklaratives Wissen benötigt um einen neuen Plan (ein neues Rezept) herzustellen.
    • Theorien, Konzepte und Fakten ermöglichen das Reflektieren von Erfahrungen, das einerseits eine Bewertung der Erfahrungen liefert, (gute Erfahrungen = weiter so, schlechte Erfahrungen = nächstes Mal anders machen), andererseits oft auch schon zu konkreten Veränderungsvorsätzen für das nächste Mal führt.
  • Deklaratives Wissen wirkt nicht schon dadurch, dass es vermittelt wird. Seine Wirkung entfaltet sich erst in seiner Verwendung. Die Berufsschule als Hauptvermittlerin deklarativen Wissens muss auch diesen zweiten Schritt sicherstellen.
  • Prozedurales und sensomotorisches Wissen (Fertigkeiten) brauchen Übungsräume, bis sie soweit automatisiert sind, dass sie als Handlungsroutinen in der Bewältigung von realen Situationen eingesetzt werden können.