Situationsbeschreibungen
Wie auch immer die Bildungsziele einer Berufsausbildung formuliert sind, das eigentliche Hauptziel ist immer die Befähigung der angehenden Berufsleute, die im Beruf anstehenden Aufgaben und Situationen erfolgreich zu bewältigen.
Es ist daher folgerichtig, dass die Lernenden ihren Ausbildungsstand mittels periodischer Arbeitsdokumentationen (= Beschreibungen beruflicher Aufgaben/Situationen und ihrer Bewältigung) dokumentieren. Allerdings muss die allgemein übliche Vorgabe in Modelllehrgängen von einigen wenigen Arbeitsdokumentationen pro Ausbildungssemester als absolut minimal bezeichnet werden, insbesondere, wenn man bedenkt, dass solche Arbeitsdokumentationen oder Situationsbeschreibungen als Ausbildungswerkzeuge wesentlich mehr können als bloss den momentanen Ausbildungstand der Lernenden zu dokumentieren. Im Folgenden werden einige mögliche Funktionen solcher Situationsbeschreibungen im Ausbildungsprozess dargestellt.
Situationsbeschreibungen und Kommunikation
Grundsätzlich können wir nur mittels einer Beschreibung von etwas überhaupt über dieses Etwas kommunizieren. Das gilt auch für Situationsbewältigungen. Und da der Ausbildungsprozess wesentlich über Kommunikation läuft, braucht er immer wieder Beschreibungen von beruflichen Situationen und davon, wer sie wie bewältigt. Wir gehen davon aus, dass auch Berufsausbildungen, die nicht explizit mit dem Ausbildungswerkzeug der Situationsbeschreibungen arbeiten, implizit - und meist halt nur mündlich - doch immer Situationsbewältigungen beschreiben.
Eine explizite schriftliche Fassung solcher Situationsbeschreibungen hat aber gewichtige Vorteile:
- Es können sich alle Personen, die Zugang zur schriftlichen Fassung haben, an der Diskussion beteiligen. Das führt zu einer massiven Erweiterung der Möglichkeiten, Situationsbewältigungen zu reflektieren.
- Das gilt insbesondere für die Möglichkeit der Koordination der schulischen und betrieblichen Ausbildung: Berufsbildner/-in, Lernende und Lehrkräfte arbeiten mit demselben Ausbildungswerkzeug.
- Die Beschreibungen können ihrerseits zum Gegenstand der Betrachtung werden:
- Ist die Situationsbewältigung gut beschrieben? (unabhängig davon, ob es eine gute Situationsbewältigung ist)
- Wird die Fachsprache zunehmend und richtig verwendet?
Dokumentation des Ausbildungsstandes
Situationsbeschreibungen eignen sich zur Dokumentation des Ausbildungsstandes, was kaum erstaunt, da sie ja für diesen Zweck eingeführt wurden. Ihre Eignung für diesen Zweck lässt sich noch steigern, wenn sie in zweierlei Hinsicht erweitert werden:
Dadurch, dass die Bewältigung der gleichen (oder einer sehr ähnlichen) Situation immer wieder beschrieben wird, lässt sich nicht nur der Ausbildungsstand, sondern auch der Ausbildungsverlauf bis zu diesem Stand erkennen. Und dies nicht nur anhand der Verbesserung der Bewältigung, sondern auch anhand der “Verbesserung” der Beschreibung, z.B. durch die Zunahme der Verwendung einer Fachsprache.
Durch das Mitführen von Listen von Ressourcen (Kenntnissen, Fertigkeiten, Haltungen, Hilfsmitteln), die die Situationsbewältigung verbessern helfen, wird gleichzeitig auch der Ausbildungsstand bei den theoretischen Kenntnissen, praktischen Fertigkeiten und beim Einsetzenkönnen beruflicher Werkzeuge anwendungsnah festgehalten. Das ist wichtig, weil schulische Prüfungen in der Regel nicht überprüfen können, ob die in der Schule erworbenen Ressourcen in der Bewältigung konkreter beruflicher Situationen auch wirklich eingesetzt werden.
Planen der Situationsbewältigung
Wie gesagt: Zum Zwecke der Dokumentation beschreiben die Lernenden berufliche Situationen und wie sie sie bewältigt haben. Dabei führen sie Listen von Kenntnissen, Fertigkeiten und Hilfsmitteln (Werkzeuge, Instrumente usw.) mit, die die Bewältigung der Situationen erleichtert haben.
Das gleiche Vorgehen eignet sich auch als elementare Planungsmethode, die später in formalisiertere Planungsprozesse mit entsprechenden Planungsinstrumenten überführt werden kann: Die Lernenden beschreiben im Voraus, wie sie sich eine erfolgreiche Situationsbewältigung vorstellen, was sie da genau tun werden, welche Ressourcen sie zur Bewältigung der Situation einsetzen wollen.
Reflektieren der Situationsbewältigung
Solcherart geplante Situationsbewältigungen können dann in die Tat umgesetzt werden und die tatsächliche Situationsbewältigung kann wieder beschrieben werden. Ein Vergleich der geplanten mit der tatsächlichen Situationsbewältigung ist dann bereits eine erste Form des Reflektierens des eigenen beruflichen Handelns, die später in formalisiertere Reflexionsprozesse überführt werden kann.
Illustrieren der Bildungsziele
Sind die Bildungsziele nach dem Muster "...kann diese berufliche Situation angemessen bewältigen" formuliert, dann eignen sich Situationsbeschreibungen auch zur konkreten Illustration, um was für Situationen es geht, was "bewältigen" in diesen Sitationen bedeutet und welche Bewältigungen "angemessen" sind. Je nach Zweck der Illustration kann es angebracht sein, die Situation und ihre angemessene Bewältigung nicht bloss zu beschreiben, sondern lebendig zu erzählen, oder sogar in einer Videoaufzeichnug eines Rollenspiels oder einer Realsituation zu präsentieren (vergleiche Die vier Wissensarten, Punkt 6).
Der Prozess
Im Folgenden wird ein minimales Vorgehen beschrieben. Die Grundideen können natürlich zu einem viel umfassenderen Portfolioprozess ausgebaut werden.
Situationen und ihre Bewältigung beschreiben
Die Lernenden verfassen eine Situationsbeschreibung pro Arbeitstag (Empfehlung) bzw. pro Arbeitswoche (Minimum). Sie wählen dazu eine Situation aus, die sie selber bewältigt haben, oder an deren Bewältigung sie massgeblich beteiligt waren. Sie beschreiben, worum es bei dieser Situation/Aufgabe ging und wie sie vorgegangen sind, um sie erfolgreich zu meistern. Sie listen dann auf, welche Ressourcen (Normen/Regeln, Hilfsmittel/Werkzeuge, Kenntnisse, Fertigkeiten, Haltungen) ihnen bei der Bewältigung nützlich waren.
Welche Situationen?
Die Auswahl der zu beschreibenden Situation kann verschiedene Aspekte berücksichtigen: Die Situation kann besonders lehrreich gewesen sein, Sie kann besonders gut zu Bildungszielen passen, an denen im Ausbildungsverlauf gerade gearbeitet wird, sie kann besonders belastend gewesen sein, so dass sie ohnehin noch reflektiert wird...
Und weiter?
Die Berufsbildnerin liest und kommentiert möglichst viele Situationsbeschreibungen ihrer Lernenden. Das kann schriftlich geschehen (z.B. als Rückmeldung auf der Rückseite des Formulars) oder mündlich (im Rahmen von ohnehin stattfindenden periodischen Ausbildungsbesprechungen). Bei mündlichen Rückmeldungen ist es sinnvoll, die Lernenden ein schriftliches Protokoll erstellen zu lassen.
"Planende" Situationsbeschreibungen
Wird dieser Prozess ernsthaft (d.h. nicht nur als Pflichtübung) durchgeführt, setzt er das für jede Berufsausbildung und jeden sozialen Beruf notwendige Reflektieren des eigenen Denkens und Handelns in Gang. Wie schon erwähnt, kann dieses Reflektieren zusätzlich gefördert werden durch den Einsatz der Situationsbeschreibungen bereits in der Planung von Situationsbewältigungen. Fallweise kann es sinnvoll sein, den Lernenden den Auftrag zu geben, heute eine “planende” Situationsbeschreibung zu erstellen und nicht eine “dokumentierende”.
Internetplattform
Ausbildungsbetriebe mit der entsprechenden Infrastuktur können ihren Lernenden anbieten, die Situationsbeschreibungen auf einer geschützten Internetplattform zu führen. Diese können dann auch den Mitlernenden und den Lehrpersonen der Schule zugänglich gemacht werden, was den Kreis der Miterlebenden und Mitreflektierenden gewaltig vergrössert.